Addiopizzo: Wie Gemeinschaften in Palermo & Catania sich gegen Mafia-Erpressung wehren
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Addiopizzo: Wie Gemeinschaften in Palermo & Catania sich gegen Mafia-Erpressung wehren
Mafia-Erpressung klingt für viele wie ein Relikt aus alten Filmen. In Palermo oder Catania ist das Thema aber alles andere als Kino. Jahrzehntelang war es normal, dass Ladenbesitzer, Restaurantbetreiber oder Bauunternehmer regelmäßig Schutzgeld – den sogenannten pizzo – zahlen mussten. Wer sich weigerte, riskierte eingeschlagene Schaufenster, Brandanschläge oder Schlimmeres. Doch in den letzten zwanzig Jahren hat sich in Sizilien etwas bewegt. Und das trägt einen Namen: Addiopizzo.
Was ist Addiopizzo?
Addiopizzo (übersetzt: „Tschüss, Schutzgeld“) ist eine Bürgerinitiative, die 2004 in Palermo von jungen Leuten ins Leben gerufen wurde. Die Gründer waren eigentlich auf Wohnungssuche. Als sie feststellten, dass Bauunternehmen fast ausnahmslos unter Mafia-Druck standen, beschlossen sie, das Thema nicht zu ignorieren. Stattdessen hängten sie in der Stadt Flugblätter auf mit dem Satz: „Ein Volk, das Schutzgeld zahlt, ist ohne Würde.“ Das war ein Tabubruch.
Heute ist Addiopizzo ein Netzwerk mit hunderten Unternehmen, die öffentlich erklären: Wir zahlen keinen Cent an die Mafia. Und noch wichtiger: Es gibt tausende Konsumenten, die bewusst in diesen Geschäften einkaufen.
Palermo: Von der Angst zur Solidarität
Palermo war lange die Hauptstadt des pizzo. Studien schätzen, dass bis zu 80 % der kleinen und mittleren Unternehmen hier regelmäßig Erpressungsgelder zahlten. Beträge variieren – manchmal wenige hundert Euro im Monat, manchmal mehrere tausend. Laut früheren Untersuchungen lag der Durchschnitt bei rund 457 Euro pro Monat für kleine Läden; in der Bauwirtschaft oft das Zehnfache. Für viele Familienbetriebe eine ruinöse Belastung.
Mit Addiopizzo hat sich die Dynamik verschoben. Heute gibt es in Palermo eine regelrechte Landkarte der „pizzo-freien“ Läden. Cafés, Pizzerien, Buchhandlungen, sogar Handwerksbetriebe. Kunden, auch Touristen, nutzen diese Karte, um gezielt dort einzukaufen. Das ist nicht nur symbolisch, sondern auch handfest ökonomisch: Es belohnt die, die standhaft bleiben. Wie Marco Vuturo, ein aktives Mitglied von Addiopizzo, es ausdrückt: „Nicht nur Unternehmer, sondern Konsumenten müssen begreifen: Mit jedem Einkauf können wir das System ändern.“
Catania: Eine andere Ausgangslage
Während Palermo früh im Fokus stand, dauerte es in Catania etwas länger, bis sich eine ähnlich starke Bewegung etablierte. Catania ist wirtschaftlich dynamischer, stärker industrialisiert, aber auch fest im Griff der Cosa Nostra. Unternehmer dort standen oft unter doppeltem Druck: Konkurrenzdruck am Markt und Forderungen der Mafia.
Seit einigen Jahren wächst jedoch auch in Catania eine „Addiopizzo“-Kultur. Lokale Initiativen vernetzen sich, und auch hier entstehen Listen von Unternehmen, die ohne Schutzgeld auskommen. Ein wichtiger Punkt: Die Zusammenarbeit mit den Behörden. In Catania gibt es inzwischen spezialisierte Polizeieinheiten, die eng mit der Zivilgesellschaft arbeiten. Anzeigen gegen Schutzgelderpressung nehmen langsam zu – ein Hinweis darauf, dass Unternehmer mehr Vertrauen in staatliche Strukturen haben.
Zahlen, Daten, Entwicklungen
- In Sizilien schätzen Forscher, dass die Mafia jährlich mehrere Milliarden Euro durch Schutzgelder und illegale Geschäfte einnimmt. 
- Addiopizzo hat in Palermo aktuell über 1.000 gelistete Geschäfte. 
- Laut Umfragen erklären bis zu 60 % der Konsumenten, dass sie bereit sind, bewusst in pizzo-freien Geschäften einzukaufen. 
- Die Zahl der Unternehmer, die Schutzgeldzahlungen öffentlich verweigern, steigt seit Jahren kontinuierlich. 
- Eine aktuelle Studie von 2025 bestätigt: pizzo ist nicht nur ein finanzielles Problem, sondern strukturiert Machtverhältnisse in Wirtschaft und Gesellschaft. 
Natürlich: Das bedeutet nicht, dass die Mafia verschwunden ist. Aber es bedeutet, dass das Schweigen gebrochen wird. Und das ist für die Cosa Nostra vielleicht gefährlicher als jede Razzia.
Alltag gegen das System
Wie fühlt sich das an, wenn man in Palermo ein Café betreibt und auf der Addiopizzo-Liste steht? Es bedeutet Mut – und Risiko. Manche Unternehmer berichten von Drohungen, andere von einem überraschenden Effekt: Solidarität. Kunden kommen bewusst vorbei, bringen Freunde mit, posten Fotos. Auch Touristen suchen gezielt nach diesen Orten. So entsteht ein kleiner Schutzschild: Öffentlichkeit.
Ein Beispiel: Eine kleine Eisdiele im Zentrum von Palermo. Früher kamen regelmäßig „Besucher“, die ihren Anteil einforderten. Seit der Besitzer sich Addiopizzo angeschlossen hat, tauchten diese Leute nicht mehr auf. Nicht, weil sie verschwunden wären – sondern weil der Laden jetzt sichtbar Teil einer größeren Bewegung ist. Ein Angriff hätte Aufmerksamkeit erzeugt. Genau das will die Mafia vermeiden.
Kultur statt Schweigen
Addiopizzo ist nicht nur ein Wirtschaftsnetzwerk. Es ist auch ein kulturelles Projekt. In Schulen werden Workshops organisiert, Schüler diskutieren über Mut, Angst und Verantwortung. Jedes Jahr findet in Palermo ein großes Addiopizzo-Fest statt. Straßen voller Stände, Musik, Gespräche. Tausende Menschen zeigen: Wir akzeptieren das alte Spiel nicht mehr.
Dieser kulturelle Aspekt ist entscheidend. Denn Schutzgeld lebt von Angst und Schweigen. Wenn Kinder und Jugendliche früh lernen, dass Schweigen keine Pflicht ist, bricht das Muster auf lange Sicht.
Tourismus als Hebel
Interessanter Nebeneffekt: Auch Reisende werden Teil der Bewegung. Wer in Palermo Urlaub macht, kann auf der Addiopizzo-Karte stöbern und gezielt dort essen, einkaufen oder übernachten, wo kein pizzo gezahlt wird. Damit fließen touristische Einnahmen direkt an Mafia-freie Strukturen. Addiopizzo Travel formuliert es so: „Die Strategie … ist völlig innovativ: ethischer Konsum gegen den Pizzo.“
Historischer Rückblick: Von Falcone bis Addiopizzo
Die Bewegung Addiopizzo steht nicht im luftleeren Raum. Sie baut auf einer langen Anti-Mafia-Tradition auf. In den 1980er und 1990er Jahren führten Richter wie Giovanni Falcone und Paolo Borsellino einen unermüdlichen Kampf gegen die Cosa Nostra. Beide wurden 1992 durch Bombenanschläge ermordet. Ihr Tod löste landesweite Proteste aus. Plötzlich war klar: Die Mafia bedroht nicht nur einzelne Unternehmer, sondern das Fundament der Demokratie.
Die heutige Generation in Palermo und Catania hat diese Ereignisse nicht vergessen. Addiopizzo ist eine Art zivile Fortsetzung dieses Kampfes. Nicht auf juristischer, sondern auf alltäglicher Ebene: im Supermarkt, im Café, in der Schule.
Persönliche Geschichten
- Giovanna, Buchhändlerin in Palermo: Sie berichtet, wie sie jahrelang still zahlte, bis ihre Tochter sie fragte, warum „diese Männer“ immer Geld holen. Das war der Moment, in dem sie sich Addiopizzo anschloss. 
- Salvatore, Bauunternehmer in Catania: Er entschied sich, keine Zahlungen mehr zu leisten, nachdem ein Kollege Konkurs anmelden musste, weil die Mafia ihn finanziell ausblutete. Heute arbeitet er mit Addiopizzo zusammen und erhält öffentliche Aufträge – ohne pizzo. 
Diese Geschichten zeigen: Es sind keine Heldenepen. Es sind normale Menschen, die irgendwann den Punkt erreichen, an dem es reicht.
Internationale Wirkung
Addiopizzo hat längst über Sizilien hinaus Strahlkraft. Anti-Mafia-Initiativen in Kalabrien, Neapel oder sogar in Deutschland berufen sich darauf. In Berlin gab es 2010 eine Solidaritätsaktion, bei der italienische Restaurants öffentlich erklärten, sie unterstützten Addiopizzo. Die Botschaft: Mafia-Erpressung ist kein „süditalienisches Problem“. Organisierte Kriminalität operiert längst global.
Herausforderungen
Natürlich ist nicht alles rosig. Viele Unternehmer haben weiterhin Angst. Der Staat reagiert nicht immer schnell oder konsequent. Manche Fälle zeigen: Wer Anzeige erstattet, steht manchmal lange ohne Schutz da. Hinzu kommt, dass die Mafia flexibel ist. Wenn direkte Erpressung schwieriger wird, sucht sie sich andere Felder: Drogenhandel, Bauwirtschaft, Online-Betrug.
Ein Sprecher der italienischen Anti-Mafia-Behörde (DIA) kommentierte kürzlich: „Die Mafia konzentriert sich zunehmend auf Geldwäsche, Steuerbetrug und Einflussnahme in öffentliche Aufträge – Erpressung bleibt zentral, aber die Methoden erweitern sich.“ Das zeigt: Addiopizzo bekämpft eine Hydra. Köpfe schlagen ist wichtig, aber es wachsen neue nach.
Addiopizzo kann also nicht die gesamte Mafia besiegen. Aber es kann Räume öffnen, in denen Menschen freier leben und arbeiten.
Persönliche Einschätzung
Was beeindruckt: Die Bewegung funktioniert, weil sie nicht von oben kommt. Kein Regierungsprogramm, keine internationale NGO. Sondern Bürger, die sagen: „Basta.“ Schluss. Und genau das macht Addiopizzo spannend. Es ist unbequem, nicht perfekt, aber echt. Und in einer Stadt wie Palermo, die jahrzehntelang als Synonym für Mafia galt, ist das fast schon eine kleine Revolution.
FAQ
Was bedeutet „pizzo“?
„Pizzo“ ist das sizilianische Wort für Schutzgeld, das von der Mafia erpresst wird.
Wie viele Geschäfte sind bei Addiopizzo dabei?
In Palermo mehr als 1.000. In Catania wächst die Zahl, genaue Angaben variieren.
Kann man als Tourist Addiopizzo unterstützen?
Ja. Über die Addiopizzo-Website oder Infomaterial in der Stadt findet man Listen von pizzo-freien Läden und Restaurants.
Hat die Mafia dadurch an Macht verloren?
Teilweise. Die klassische Schutzgelderpressung wird schwieriger. Aber die Mafia verlagert ihre Aktivitäten.
Warum trauen sich Unternehmer heute eher, nein zu sagen?
Weil es Solidarität gibt – von Konsumenten, Mitbürgern und teilweise auch von Polizei und Staat.
Gab es Rückschläge für die Bewegung?
Ja. Einige Unternehmen wurden trotz Addiopizzo-Mitgliedschaft angegriffen. Doch gerade diese Fälle sorgten für mehr Öffentlichkeit und stärkere Solidarität.
Welche Rolle spielen Frauen in der Bewegung?
Sehr große. Viele Ladenbesitzerinnen oder Witwen ermordeter Anti-Mafia-Aktivisten sind heute treibende Kräfte in Addiopizzo.
Labels: Addiopizzo, Palermo, Catania, Mafia, Schutzgeld, Pizzo, Sizilien, Bürgerbewegung, Anti-Mafia, Wirtschaft, Tourismus, Falcone, Borsellino, Zitate, Studien
Meta-Beschreibung: Addiopizzo in Palermo und Catania: Wie Bürger, Unternehmer und Konsumenten gemeinsam gegen Mafia-Erpressung kämpfen – mit Fakten, aktuellen Studien, persönlichen Geschichten und Zitaten von Aktivisten
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