Favignana und die Farben des Mittelmeers
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Favignana und die Farben des Mittelmeers
Das Mittelmeer schimmerte in einem tiefen Türkisblau, als Maria an diesem frühen Morgen auf ihrer Terrasse stand und den Blick über die Bucht von Favignana schweifen ließ. Die salzige Brise spielte mit ihrem dunklen Haar, während die aufgehende Sonne die charakteristischen Kalksteinfelsen der Insel in warmes Licht tauchte. Dreißig Jahre war es her, seit sie das letzte Mal hier gewesen war, und doch schien die Zeit auf der größten der Ägadischen Inseln stillgestanden zu haben.
Die kleine Stadt erwachte langsam zum Leben. Aus der Bäckerei in der Via Roma stieg der verführerische Duft von frisch gebackenem Brot auf, vermischt mit dem intensiven Aroma von sizilianischem Kaffee. Ein alter Fischer schob sein verwittertes Holzboot ins Wasser, während zwei streunende Katzen neugierig seinen Bewegungen folgten. Es waren diese kleinen, alltäglichen Szenen, die Maria sofort wieder in ihre Kindheit zurückversetzten.
"Signorina Maria!", rief eine raue Stimme von unten. Es war Antonio, der Sohn des ehemaligen Nachbarn ihrer Großeltern. Sein von der Sonne gegerbtes Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, aber seine Augen strahlten noch immer die gleiche Lebensfreude aus wie früher. "Willkommen zurück auf der Insel!" Er winkte ihr zu, einen Korb voller frisch gefangener Sardinen in der anderen Hand.
Maria lächelte und winkte zurück, während eine Welle von Erinnerungen über sie hereinbrach. Sie sah sich selbst als kleines Mädchen durch die engen Gassen rennen, mit anderen Kindern Verstecken spielen zwischen den ausrangierten Thunfischbooten, die wie gestrandete Wale am Strand lagen. Die alte Tonnara, die ehemalige Thunfischfabrik, hatte damals noch in vollem Betrieb gestanden. Der Geruch von Salz und Fisch hatte die Luft erfüllt, und die Fischer hatten ihre traditionellen Lieder gesungen, während sie ihre Netze flickten.
Sie war nicht freiwillig zurückgekehrt. Der Brief des Notars hatte sie in ihrem geschäftigen Leben in Mailand erreicht wie ein Stein, der die glatte Oberfläche eines Teichs durchbricht. Ihre Großmutter Concetta war gestorben und hatte ihr das alte Familienhaus vermacht. "Das Haus muss in der Familie bleiben", hatte sie in ihrem Testament geschrieben. "Es trägt unsere Geschichten in seinen Mauern."
Maria stieg die ausgetretenen Steinstufen hinunter in den kleinen Innenhof. Die Bougainvillea, die ihre Großmutter so geliebt hatte, wucherte immer noch wild über die Pergola, ihre pinken Blüten ein strahlender Kontrast zu den weißgetünchten Wänden. Der alte Holztisch stand noch genau dort, wo er immer gestanden hatte. Wie oft hatten sie hier zusammengesessen, während ihre Nonna Geschichten von früher erzählte, von den Jahren des Thunfischfangs, als Favignana noch das "Königreich des Thunfischs" gewesen war.
Die schwere Holztür zum Haus knarrte vertraut, als Maria sie öffnete. Der Geruch von Staub und verschlossenem Raum schlug ihr entgegen, vermischt mit einer schwachen Note von Rosmarin und getrockneten Kräutern. Ihre Großmutter hatte immer große Bündel davon unter der Decke aufgehängt. Im Halbdunkel konnte sie die Umrisse der alten Möbel erkennen – den massiven Eichenschrank, den ihr Großvater selbst gebaut hatte, den abgenutzten Lehnstuhl am Fenster, in dem ihre Nonna immer gesessen und gestrickt hatte.
Auf dem kleinen Tisch neben dem Stuhl lag noch ihr Notizbuch, als hätte sie es erst gestern dort abgelegt. Maria nahm es vorsichtig in die Hand. Die Seiten waren vergilbt, die Handschrift ihrer Großmutter elegant und präzise. Es waren Rezepte, alte Familienrezepte, die von Generation zu Generation weitergegeben worden waren. Pasta con le sarde, Caponata, und natürlich das berühmte Thunfisch-Rezept ihrer Familie.
Ein plötzlicher Windstoß wehte durch das offene Fenster und ließ die Vorhänge tanzen. Mit ihm kam der intensive Duft des Meeres, vermischt mit dem würzigen Aroma der wilden Kräuter, die überall auf der Insel wuchsen. Maria setzte sich in den alten Lehnstuhl und schloss für einen Moment die Augen. Sie hatte vergessen, wie intensiv die Sinneseindrücke hier waren, wie lebendig alles erschien im Vergleich zu ihrem sterilen Apartment in Mailand.
Die letzten Wochen dort waren hektisch gewesen, gefüllt mit endlosen Meetings und dem konstanten Summen ihres Smartphones. Hier auf Favignana schien die Zeit einen anderen Rhythmus zu haben. Das einzige Geräusch war das ferne Rauschen des Meeres und das gelegentliche Rufen der Möwen.
"Du musst das Haus verkaufen", hatte ihre Schwester am Telefon gesagt. "Es ist unpraktisch, ein Haus auf einer Insel zu behalten, das die meiste Zeit leer steht." Rein logisch betrachtet hatte sie Recht. Und doch – während Maria durch die Räume ging, ihre Hand über die rauen Steinwände gleiten ließ, spürte sie eine tiefe Verbundenheit mit diesem Ort.
In der Küche stand noch der alte Gasherd, auf dem ihre Großmutter ihr beigebracht hatte, wie man den perfekten Espresso kocht. An den Wänden hingen die handbemalten Teller aus Caltagirone, jeder einzelne eine kleine Kunstwerk. Durch das Fenster konnte sie den Monte Santa Caterina sehen, den Berg, der wie ein schlafender Riese über der Insel wachte.
Die Nachmittagssonne warf lange Schatten durch die Fenster, als Maria begann, Ordnung in das Chaos zu bringen. Jedes Objekt, das sie in die Hand nahm, erzählte eine Geschichte. Da war die alte Kaffeemühle, die noch von ihrer Urgroßmutter stammte. Die verblichenen Fotografien an den Wänden zeigten Fischer bei der traditionellen Mattanza, dem rituellen Thunfischfang, der einst das Leben auf der Insel bestimmt hatte.
Zwischen alten Papieren fand sie einen weiteren Brief ihrer Großmutter, geschrieben kurz vor ihrem Tod. "Meine liebste Maria", las sie, "ich weiß, dass du deinen Weg in der großen Stadt gefunden hast. Aber vergiss nie, woher du kommst. Dieses Haus ist mehr als nur Steine und Mörtel. Es ist der Ort, an dem unsere Familie ihre Wurzeln hat, wo Generationen von starken Frauen ihre Träume gelebt haben. Vielleicht findest du hier auch wieder zu deinen eigenen Träumen zurück."
Maria faltete den Brief sorgfältig zusammen und trat wieder auf die Terrasse hinaus. Die Sonne stand nun tief über dem Meer, tauchte den Himmel in ein spektakuläres Farbenspiel aus Orange und Rosa. Ein kühler Wind hatte sich erhoben, brachte den Duft von Jasmin und wildem Thymian mit sich. In der Ferne läuteten die Kirchenglocken von San Giuseppe zum Abendgebet.
Vielleicht, dachte Maria, während sie den Fischerbooten zusah, die in den Hafen zurückkehrten, vielleicht war es kein Zufall, dass sie ausgerechnet jetzt nach Favignana zurückgekehrt war. In den letzten Jahren hatte sie sich so sehr darauf konzentriert, vorwärts zu kommen, dass sie vergessen hatte, wo sie hergekommen war. Hier, umgeben von den Geistern ihrer Vergangenheit und dem zeitlosen Rhythmus der Insel, begann sie zu verstehen, was ihre Großmutter ihr hatte sagen wollen.
Sie würde das Haus nicht verkaufen. Stattdessen würde sie es zu neuem Leben erwecken, würde die Geschichten bewahren und neue hinzufügen. Und vielleicht, ganz vielleicht, würde sie hier auf Favignana auch den Teil von sich selbst wiederfinden, den sie in all den Jahren in der Stadt verloren hatte.
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